Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit
Die Epochenbezeichnung „Frühe Neuzeit“ klingt ambivalent – „Neuzeit“ deutet auf Modernität und Verbindung zur Gegenwart hin, „früh“ hingegen auf eine gewisse Distanz zur Jetztzeit, auf traditionale Elemente und Differenz gegenüber der Kultur der Moderne. Heute wird die Frühe Neuzeit zunehmend als eine von bestimmten Merkmalen geprägte, eigenständige Epoche angesehen, die sich sowohl vom Mittelalter vor 1500 als auch von der Moderne ab ca. 1800 abgrenzen lässt.
Doch Epochen werden von Historikern zur Gliederung des historischen Verlaufs konstruiert und existieren nicht aus sich heraus. So sind die Ständegesellschaft und die hohe Bedeutung von Religiosität für Identität und Weltdeutung vormoderne Faktoren der Kontinuität, die das Mittelalter und die Frühe Neuzeit verbinden. Andererseits kann man die Frühe Neuzeit mit einigem Recht als eine Epoche bezeichnen, in der Entwicklungen ihren Anfang nahmen, welche die Neueste Zeit prägten; dies zeigt sich etwa in der Geschichte der Staatsbildung, der Reformation und der „Wissenschaftlichen Revolution“. Dass sich die Wertung der Frühen Neuzeit als eigenständige Epoche weitgehend durchgesetzt hat, ist nicht zuletzt auf ihre Institutionalisierung an den Universitäten seit den 1960er Jahren zurückführen. Seit 1993 gibt es einen Lehrstuhl für Frühe Neuzeit auch am Historischen Institut der Universität Rostock.Die europäische Frühe Neuzeit wird oft als Epoche der besonders ausgeprägten Ambivalenzen und Gegensätze, der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigkeiten“ bezeichnet. Dafür gibt es markante Beispiele: Der Globalisierung, die mit der europäischen Kolonisierung Amerikas einsetzte, standen die lokal geprägten Lebenswelten der meisten Zeitgenossen dieser Epoche gegenüber. Die Kommunikationsrevolutionen des 16. Jahrhunderts, vor allem im Bereich des Buchdrucks und des Brieftransports, ermöglichten die Verbreitung von Ideen in bis dahin nicht gekanntem Umfang, der aber durch die Zensur und die Aufrichtung konfessioneller Grenzen gleich wieder empfindlich eingeschränkt wurde. Und, um das vielleicht das frappierendste Beispiel von Ungleichzeitigkeit zu nennen: In den 1630er Jahren erhielt der neuzeitliche Rationalismus durch René Descartes entscheidende Anschübe, während zur selben Zeit die Hexenverfolgung in verschiedenen Teilen Europas ihren Höhepunkt erreichte.
Die Frühe Neuzeit wird in Rostock im europäischen Rahmen behandelt, sowohl im Vergleich verschiedener kultureller Räume als auch durch die Untersuchung von Verflechtungen, beispielsweise kultureller Transferprozesse. Folglich bilden Außenbeziehungen in Lehre und Forschung einen ersten Schwerpunkt. Die Frühe Neuzeit ist die Epoche, in der die Diplomatie aufstieg und Regierungsapparate entstanden, die Außenpolitik planten und ausführten. Ebenso wurde Europa von einem Netz von sozialen Beziehungen vielfältiger Art durchzogen. Händler, Adelsfamilien, Künstler und Gelehrte standen in regem Austausch miteinander, knüpften Netzwerke und bildeten Infrastrukturen kultureller Verflechtung.
Ein zweiter Schwerpunkt liegt in der Geschichte des Normenwandels und der Normenkonkurrenz. In der Frühen Neuzeit konkurrierten in charakteristischer Weise religiöse, gemeinwohlorientierte und soziale Normen miteinander. Kirche und Staat bzw. der Fürst mit seiner Verwaltung und der Justiz standen als zentrale normsetzende Instanzen, die sich zunehmend Geltung verschafften, der „face-to-face society“ der lokalen Gemeinschaften gegenüber, die eine nicht minder verbindliche Norm(durch)setzungsinstanz darstellten. Die Erforschung von Normenkonflikten, wie sie sich etwa in Korruptionsdebatten zeigt, ist in besonderer Weise geeignet, Werte- und Handlungshorizonte von Gruppen und Individuen in der Frühen Neuzeit auszuloten.
Der Vergleich zwischen Früher Neuzeit und der Postmoderne erscheint im Hinblick auf die Geschichte von Normensystemen besonders reizvoll. Betrachtet man die derzeit sehr ausgeprägte Konkurrenz zwischen staatlicher Regulierung, ökonomischen Effektivitätsnormen und in den digitalen global villages geforderten sozialen Normen, zeigt sich die Relevanz der Frühneuzeitforschung für die vergleichende Deutung aktuellen gesellschaftlichen Wandels.