Zeitgeschichte
Zeitgeschichte ist eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich durch eine Besonderheit auszeichnet: Als „Epoche der Mitlebenden“ (Hans Rothfels 1953) verfolgt sie das historische Geschehen bis in die unmittelbare Gegenwart. Ihre epochalen Grenzen sind nicht statisch, sondern ständig im Fluss. Sie können sich unter dem Eindruck gegenwärtiger politischer Konstellationen verschieben.
Lange galt das Epochenjahr 1917 als eigentliche Zäsur für die Zeitgeschichtsforschung. Der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und die bolschewistische Oktoberrevolution in Russland leiteten gemeinhin das „Zeitalter der Ideologien“ (Karl Dietrich Bracher) ein. Die für das 20. Jahrhundert charakteristische bipolare Weltordnung nahm hier ihren Ausgang.
Inzwischen hat das Jahr 1917 seinen zentralen Stellenwert für die neuere Zeitgeschichtsforschung eingebüßt. Heutzutage bilden zunehmend die Jahre 1945 und 1989/90 die historischen Eckdaten, innerhalb derer sich die Zeithistoriker bewegen. Der Grundkonflikt dieser Epoche wird in der nachfolgenden Karikatur anschaulich problematisiert: Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Sieg der „Anti-Hitler-Koalition“ über die NS-Diktatur wird Europa spätestens ab 1947 zu einem zentralen Austragungsort des Kalten Krieges. Fortan ist der Kontinent für über 40 Jahre durch den sprichwörtlichen „Eisernen Vorhang“ geteilt. Im Osten werden unter stalinistischer Vorherrschaft sozialistische Nachkriegsdiktaturen etabliert. Im Westen vollzieht sich angesichts der Sorge vor einer weiteren sowjetischen Expansion und unter maßgeblicher Mitwirkung der Vereinigen Staaten die europäische Westintegration. Geradezu sinnbildlich für diese Grundkonstellation steht das geteilte Deutschland. Nahezu vier Jahrzehnte bildet es die eigentliche Nahtstelle des Ost-West-Konflikts in Europa, wie nicht zuletzt die Berliner Mauer seit 1961 verdeutlicht.
Erst durch den Niedergang der sowjetischen Hegemonie in Osteuropa, was 1989/90 die dortigen friedlichen Revolutionen nachhaltig begünstigt, werden schließlich die deutsche Teilung und die östlichen Nachkriegsdiktaturen überwunden.
Vor diesem Hintergrund ist das Themenangebot des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Rostock zu sehen. Es erstreckt sich auf die deutsche und europäische Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, unter Einbeziehung globalgeschichtlicher Zusammenhänge.
Ein zweiter Arbeitsschwerpunkt liegt auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen und des Ost-West-Konflikts, besonders auf den deutsch-russischen bzw. deutsch-sowjetischen Beziehungen. Deutschland und Russland verbindet ein wechselvolles Verhältnis mit nachhaltigen Folgen für das Europa des 20. Jahrhunderts. Dies gilt nicht nur für die beiden großen totalitären Herrschaftsformen, den Nationalsozialismus und den Stalinismus, die die europäische Geschichte und Identität tief geprägt haben. Auch in der poststalinistischen Periode und nicht zuletzt während des deutschen Vereinigungsprozesses in den ausgehenden 1980er und frühen 1990er Jahren hat das deutsch-sowjetische Verhältnis seine nachhaltige Wirkung für die damalige, vom Kalten Krieg geprägte bipolare Welt deutlich werden lassen. Das gilt nicht minder für das beginnende 21. Jahrhundert. Ungeachtet aller Globalisierungs- und multilateraler politischer Entwicklungsprozesse zeigt sich, dass sich das vereinte Deutschland und das postsowjetische Russland nach wie vor als wichtige, auf bilaterale Interaktion orientierte Akteure betrachten.
Ein dritter Themenkomplex, der in Rostock Gegenstand zeitgeschichtlicher Betrachtung ist, widmet sich der Geschichte der alten Bundesrepublik und der sogenannten Berliner Republik. Dabei wird die westdeutsche Nachkriegsentwicklung vor allem in ihrer internationalen und innerdeutschen Dimension, aber auch im Kontext der politischen Kultur des Kalten Krieges reflektiert. Für das vereinigte Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts stehen grundsätzliche Überlegungen zu Begriff und Charakter der Berliner Republik, deren Politik und politische Kultur, die Herausforderungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik im europäischen wie transatlantischen Kontext sowie die „neue Republik“ im Spiegel von Gesellschaft und Kultur im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses.
Zeitgeschichte als geschichtswissenschaftliche Teildisziplin befasst sich mit der „Epoche der Mitlebenden“. Dies bedeutet aber nicht, die historischen Ereignisse jener Epoche nur aus ihrer Zeit heraus erklären und verstehen zu wollen. Vielmehr ist es erforderlich, immer auch den Wurzeln und Entwicklungsprozessen zeitgeschichtlicher Phänomene nachzuspüren, die mitunter bis ins 19. Jahrhundert und weiter zurückreichen können.
(Die Urheberrechte der Karikaturen konnten nicht ermittelt werden. Es wird gebeten, sich gegebenenfalls mit dem Betreiber der Homepage-Seite in Verbindung zu setzen.)