Prof. Dr. Hillard von Thiessen
Kurt von Fritz-Professorenstipendium zur Erstellung einer Monographie

Die Frühe Neuzeit als Zeitalter der Ambiguität?

Normenkonkurrenz als Merkmal europäischer Gesellschaften der Vormoderne

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Die Frühe Neuzeit wird in der zu erstellenden Monographie als eine Epoche analysiert, deren wesentliches Charakteristikum eine verschärfte Normenkonkurrenz ist. Die verschiedenen widerstreitenden Handlungserwartungen, denen Individuen und Gruppen ausgesetzt waren, werden idealtypisch gebündelt und in drei Normensysteme geschieden – das religiöse, das soziale und das gemeinwohlorientierte. Diese Normensysteme formierten und konkretisierten sich im späten Mittelalter. Ihre Autorität wuchs – etwa in Form von konfessionell geprägten religiösen Handlungserwartungen, von Normen korrekter Amtsführung in den wachsenden Verwaltungsapparaten oder von ehrbarem Verhalten, das dem jeweils eigenen Stand angemessen zu sein hatte. Der Konkretisierung, Propagierung und energischen Einforderung von Handlungserwartungen durch verschiedene Instanzen standen aber noch keine klar abgegrenzten sozialen Felder (z. B. Amts- oder Privatsphäre) gegenüber, in denen vorrangig ein Normensystem galt; daher kam es in der Handlungspraxis zu zahlreichen Überlappungen und normativen Widersprüchen – zu Normenkonkurrenz. Im Rahmen des Projekts ist zu untersuchen, inwieweit die verschärfte Normenkonkurrenz Denk- und Verhaltensweisen frühneuzeitlicher Akteure geprägt hat. Dabei ist ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, inwieweit Normenkonkurrenz einen kasuistischen Umgang mit Verhaltenserwartungen generiert hat – mithin, inwieweit die Frühe Neuzeit als „Zeitalter der Ambiguität“ gelten kann. Zu fragen ist weiterhin, welche geographischen, politischen, konfessionellen und sozialen Varianten von Normenkonkurrenz auszumachen sind. Die europäischen Normenhorizonte sind in einem weiteren Schritt mit denen von Gesellschaften außerhalb der europäischen christianitas in Beziehung zu setzen, unter zwar insbesondere solchen in den Kolonien europäischer Herrschaften und in der islamischen Welt. Auf diese Weise wird die Frage nach europäischen Spezifika historischer Entwicklung in globalgeschichtlichem Rahmen gestellt: Kann in der Frühen Neuzeit von einem spezifisch christlich-europäischen Normenhorizont gesprochen werden, oder lassen sich gemeinsame Merkmale vormoderner Normenhorizonte in interkultureller Perspektive identifizieren? Das Projekt versteht sich als grundlegender Beitrag zu einer derzeit laufenden Theoriedebatte über den Charakter der Frühen Neuzeit und ihre Bedeutung für die europäische Moderne bis zur Gegenwart.