Prof. Dr. Michael Busch
Kurt von Fritz Postdoc-Stipdendium zur Erstellung einer Monographie

Migration, Transmigration, Integration

Die mecklenburgischen Ursprünge der jüdischen Gemeinde in Schweden (1770-1815).

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Migration, Integration und religiöse Konflikte, die in der aktuellen politischen Debatte heiß diskutiert werden, sind keine neuen Phänomene. So gelangte als Folge der ersten polnischen Teilung im Jahr 1772 eine große Zahl polnischer Juden nach Mecklenburg, das für eine relativ liberale Haltung gegenüber Juden bekannt war; zudem hatte Herzog Adolf Friedrich IV. im selben Jahr in Mecklenburg-Strelitz das Hausieren zugelassen und ermöglichte den Zuwanderern somit einen Lebensunterhalt. Darüber hinaus waren in seinem Territorium die Zunftbeschränkungen so sehr gelockert worden, dass auch Juden, wenngleich mit Einschränkungen, ein Handwerk ausüben und Grundbesitz erwerben durften, was auch für das größere Mecklenburg-Schwerin galt. Die jüdische Gemeinde in Strelitz wuchs in der Folge auf etwa 600 Mitglieder an und war mithin eine der größeren im Alten Reich.

Unter den prominenten jüdischen Migranten in Mecklenburg findet sich Aaron Isaak (1730-1816), der in engem Kontakt mit dem Bützower und späteren Rostocker Professor für Orientalistik Oluf Gerhard Tychsen (1734-1815) stand und als Gründer der jüdischen Gemeinde in Schweden gilt. Tychsen, der wesentlich am Edikt zur Emanzipation der Juden Mecklenburgs von 1813 mitwirkte und über ein großes Netzwerk zu skandinavischen Gelehrten verfügte, initiierte die Gründung der jüdischen Gemeinde in Schweden 1774, indem er Aaron Isaak mit Begleitschreiben ausstattete und ihn seinen schwedischen Kollegen anempfahl. Aaron Isaak öffnete die Türen für weitere Mecklenburger Juden, die ihm nach Schweden folgten und mit ihm die Stockholmer Gemeinde gründeten. Der Initiator Tychsen galt Ende des 18. Jahrhunderts als eine der größten Kapazitäten in der Orientalistik in Europa, und zwar insbesondere im Bereich der Numismatik. Er hatte darüber hinaus unter den Mecklenburger Juden einen ausgezeichneten Ruf als eine Art rabbinische Autorität und pflegte vielfältige Kontakte zu Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft; unter anderem war er Mittelsperson für Mecklenburger Juden, die Anliegen an den Herzog hatten.

Ziel des beantragten Projektes ist es, die mecklenburgisch-schwedische und zugleich jüdisch-christliche Verflechtung in ihren Dynamiken zu untersuchen und zu analysieren. Anhand ausgewählter Korrespondenzen sollen die christlich-jüdischen Beziehungen in Mecklenburg als Transmigrationsraum untersucht werden; dabei kommen unterschiedliche Beziehungsformen in den Blick, die von der Nutzung der Vermittlerrolle Tychsens in grenzüberschreitenden Kontakten bis hin zu privaten und langandauernden Beziehungen reichen. Die Korrespondenzen bieten eine hervorragende Quellengrundlage, um die Integrations-, Bildungs- und Ausbildungschancen von Juden und die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellten, zu analysieren. Ebenso soll die Bedeutung eines über den Ostseeraum gespannten Gelehrtennetzwerkes mit Rostock als Knotenpunkt in seiner Bedeutung für die jüdische Emanzipation erforscht werden. In Schweden hatte der Finanzminister Johan Liljencrantz bereits 1760 die Forderung erhoben, Juden die Religionsfreiheit zu gewähren. 1772 erschien zudem die weit beachtete Schrift Josias Carl Cederhielms „Bedenken, inwieweit Juden das Niederlassungsrecht in Schweden erhalten sollen“, die ebenfalls Religionsfreiheit und Niederlassungsrecht für Juden forderte, da man sich so positive Impulse für das schwedische Wirtschaftsleben erhoffte. Ähnlich äußerte sich 1772 der schwedische König Gustav III.; damit schienen günstige Rahmenbedingungen für eine durch die Obrigkeit geförderte jüdische Migration nach Schweden zu bestehen. Grundlage der Untersuchung ist die Korrespondenz Oluf Gerhard Tychsens. Der Quellenkorpus befindet sich vollständig im Besitz der Universitätsbibliothek Rostock. Im Rahmen eines DFG-Projektes werden die Korrespondenzen zurzeit erschlossen und digitalisiert. Von besonderer Relevanz für das Projekt sind der Briefwechsel Tychsens mit Aaron Isaak, der mit dem später nach Schweden migrierten „Pieretz aus Schwerin“, weiterhin der mit dem ersten Rabbiner in Schweden, Yehuda Lebh und schließlich die im Zusammenhang der Gründung der jüdischen Gemeinden in Schweden entstandenen Korrespondenzen Tychsens mit seinen schwedischen Kollegen Per Sjöbring, Gustav Knös und Samuel Ödman.

Der besondere Quellenwert dieser Korrespondenzen liegt in ihrer Multiperspektivität auf eine komplexe transreligiöse Wissens- und Beziehungsgeschichte. Briefwechsel von Gelehrten bieten der Forschung klassischerweise einen Zugang zur Gelehrtenkultur. Im Fall der für dieses Projekt zu untersuchenden Briefbestände kommt die Verbindung zwischen Wissenstransfer, interreligiösem Dialog und öffentlichem Wirken im Sinne der Aufklärung hinzu. Die Korrespondenzen zwischen Tychsen und seinen jüdischen Briefpartnern enthalten neben diesem Aspekt aber auch zahlreiche Hinweise auf den von Konflikten und Schwierigkeiten bis hin zu blanker Not geprägten Alltag der Transmigranten in einer christlich geprägten Umwelt in Mecklenburg und Schweden. Die Briefe spiegeln die Positionierung der Juden in Schweden in einer fremden Umwelt wider und lassen das Wechselspiel zwischen konkreten Integrationsbemühungen und dem damaligen öffentlichen und politischen Diskurs erkennen.

Das Tagebuch Aaron Isaaks wurde im Jahre 1932 ediert, während die in diesem Kontext entstandenen Korrespondenzen bislang gänzlich unerforscht sind. Ihre Bearbeitung und Analyse stellt einen erheblichen Schritt in der Grundlagenforschung zur jüdisch-christlichen Geschichte dar und füllt eine Forschungslücke. Die Korrespondenzen Aaron Isaaks, Pieretz und Yehuda Lebhs mit Tychsen fokussieren das jüdische Leben 'from below', ohne den Kontext der jüdischen Aufklärung (Haskalah) und der voranschreitenden Säkularisierung auszublenden. Sie stellen seltene Quellen zur Erforschung der jüdischen Transmigration und jüdisch-christlichen Alltagsinteraktion in der Zeit der Aufklärung dar; schließlich erlauben die Briefe Einblicke in innerjüdische Netzwerke und die Mobilität der Juden am Beispiel ihrer Migration nach Schweden.

Die deutsch-jüdische Geschichte, die, wie Michael A. Mayer hervorhob, oft ungenügend als eine Beziehungsgeschichte zwischen differenten Kulturen behandelt wird, kann durch die Analyse der ausgewählten Korrespondenzen grundsätzlich weiterentwickelt und als eine transkulturelle Verflechtungsgeschichte dargestellt werden. Damit kann an aktuelle kulturgeschichtliche Debatten angeknüpft werden. Zudem sollen die in den Korrespondenzen zu erkennenden Beziehungsstrukturen mit Hilfe der Patronage- und Netzwerkforschung analysiert und soll ihre Funktion für den interreligiösen Dialog, den Wissenstransfer und die Bildung grenzüberschreitender Netzwerke der Aufklärung erforscht werden; außerdem ist die konkrete Funktion und Wirkung dieser Beziehungsnetze für den Alltag der jüdischen Transmigranten in den Blick zu nehmen. Ein derartiger Ansatz überwindet damit die einseitige Höhenkammperspektive weiter Teile der herkömmlichen Forschung, die sich weitgehend auf das Wirken jüdischer und christlicher Eliten und den gelehrten Aufklärungsdiskurs beschränkte.