Lehrstuhl für Europäische und Neueste Geschichte

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs gilt es, Europa neu zu denken. Denn Europäische Geschichte ist mehr als die Geschichte der politischen Integration Europas. Was meint Europäische Geschichte heute? Wo beginnt sie? Wie weit reicht sie?

Nach dem Fall des Eisernen Vorhang weicht die analytische Trennung in einen westlichen und einen östlichen Teil der europäischen Geschichte neuen Vorstellungen einer historischen Geographie Europas und die vielfältigen Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen West und Ost werden neu sichtbar. So haben deutsche Bevölkerungsgruppen Ostmitteleuropas oft westliche Modelle wie Städteordnungen oder Sozialfürsorge übernommen und selektiv der lokalen Situation angepasst. Ideen sind aber auch von Ost nach West gewandert, wie die Rezeption des frühen zionistischen Werks „Auto-Emanzipation“ (1881) des Odessaer Arztes Leon Pinsker in westlichen Metropolen zeigt.

Europäisierungsprozesse blieben indes nicht auf die Geschichte politischer Integration wie zuletzt in der Europäischen Union beschränkt. Vielmehr gilt es, die langfristige Dimension und kulturelle Vielfältigkeit solcher Entwicklungen neu in den Blick nehmen. Die Griechenfreunde des frühen 19. Jahrhunderts nahmen ihr Projekt des Philhellenismus ebenso als europäisch wahr wie Kolonialbeamten des späten 19. Jahrhunderts ihre „Zivilisierungsmission“ in Afrika und Asien, wo sie ungeachtet der politischen Differenzen „zuhause“ nach gemeinsamen „europäischen“ Lösungen suchten.

Schließlich verweist die globale Verflechtung des 19. Jahrhunderts  darauf, dass wir die europäische Geschichte nicht ohne ihre Beziehungen zur außereuropäischen Welt verstehen können, die Europa durch Handel und Migration, durch Sklaverei und Kolonisierung, Krankheiten oder Kriege mit Afrika, Asien und Amerika verbinden. Diese Austauschprozesse bildeten nie eine Einbahnstraße, sondern sind konstitutiv für die europäische Moderne, die als innereuropäische  Grenzüberschreitung wie als Interaktion Europas mit der außereuropäischen Welt gedacht werden muss. Nur im Kontext afrikanischer und transatlantischer Phänomene lassen sich beispielsweise die europäischen Antisklaverei-Bewegungen des 19. Jahrhunderts erklären, deren Vertreter mit der ersten „World Anti-Slavery Convention“ von 1840, hier in einem Gemälde von Benjamin Haydon,  ihren Anspruch auch global anmeldeten:

Der räumlichen Verflechtung dieses Europabegriffs entsprechen offene chronologische Grenzen, die das 19. Jahrhundert weniger zwischen 1789 und 1914 einzwängen, sondern problemorientiert nach den Wurzeln „moderner“ Phänomene in der Frühen Neuzeit fragen ebenso wie sie ihren Konversionen im 20. Jahrhundert nachspüren. Innerhalb einer so verstandenen Europäischen Geschichte liegt ein Schwerpunkt des Rostocker Lehrstuhlteams auf der Geschichte europäischer Empires und ihrer außereuropäischen Peripherien. Durch die Frage, wie die vielfältigen Räume, welche Empires ausmachen,  erschlossen wurden und welche Begegnungen, Konflikte und Kontaktzonen dies zwischen Herrschenden und Beherrschten nach sich zog, geraten bislang vernachlässigte Gesellschaften und Kulturen in den Blick, die auch zum Verständnis kultureller und wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse der Neuzeit anregen.

Benjamin R. Haydon, The Anti-Slavery Convention 1840 (National Portrait Gallery, London)